UPDATE: Heute, am 17.06., hat Umweltministerin Leonore Gewessler für das Renaturierungsgesetz gestimmt! Österreich war entscheidend für den Ausgang der Abstimmung und schreibt mit seiner Zustimmung Naturschutzgeschichte.
Auf einen Blick
- Das Renaturierungsgesetz wurde schon in trockenen Tüchern geglaubt, jetzt liegt es doch auf Eis
- 18 der 27 EU-Länder unterstützen das Gesetz, doch zu viele bevölkerungsstarke Länder wollen dagegen stimmen
- Österreich hat das Gesetz bisher abgelehnt, mit einer Zustimmung könnten wir Naturschutzgeschichte schreiben
Renaturierungsgesetz liegt auf Eis
Erinnern Sie sich noch an diesen Beitrag von uns? Vor drei Monaten hat das EU-Parlament den fertig ausverhandelten Gesetzesentwurf zum Renaturierungsgesetz angenommen. Europaweit wurde erleichtert aufgeatmet und die Blockade durch rechte und konservative Parteien schien endlich überwunden. Den letzten potentiellen Stolperstein haben wir damals nur als kleinen Satz erwähnt – „Der letzte Schritt zur Umsetzung des Renaturierungsgesetz gilt als Formsache“.
Renaturierung sichert unser Überleben
Mehr als 80 % der natürlichen Lebensräume der EU sind stark geschädigt. Durch das Renaturierungsgesetz sollen EU-Staaten bis 2030 mindestens 30 %, bis 2040 60 % und bis 2050 90 % der Lebensräume in schlechtem Zustand wiederherstellen und damit nicht zuletzt auch das Überleben von uns Menschen sichern. Das Gesetz nennt mehr als 30 nichtverpflichtende Beispiele, wie Mitgliedstaaten diese Ziele erreichen könnten, etwa durch weniger Pestizideinsatz, naturnahe Vegetationsstreifen und die Nutzung wiedervernässter Moore.
Auch für unsere Städte, Bäume und Flüsse sind wichtige Projekte geplant. So sollen bis 2030 mindestens 3 Milliarden neuer Bäume gepflanzt und mindestens 25.000 km wieder frei fließender Flüsse geschaffen werden. Für das Stadtklima sollen Netto-Grünfläche und der städtische Baumbestand nicht weiter schrumpfen. Zusätzlich werden beispielsweise mehr Fassaden- und Dachbegrünungen empfohlen.
Jetzt ist eingetreten, was kaum jemand für wahrscheinlich gehalten hat: obwohl tausende Wissenschaftler:innen laufend auf die Notwendigkeit von Renaturierung aufmerksam machen, obwohl in den Verhandlungen zwischen EU-Kommission, Parlament und den Mitgliedsstaaten eine Einigung gefunden werden konnte, obwohl der Entwurf dabei an einigen Stellen deutlich abgeschwächt wurde und Landwirtinnen und Landwirte beispielsweise ausdrücklich von individuellen Verpflichtungen freistellt, liegt das Renaturierungsgesetz auf Eis.
Nachdem das EU-Parlament den Entwurf angenommen hat, müssen zuletzt auch die Mitgliedsstaaten noch einmal formal zustimmen. Im Falle des Renaturierungsgesetzes findet diese Abstimmung im Rat „Umwelt“ statt, dem alle Umweltminister:innen der 27 Mitgliedsstaaten angehören.
Hier braucht es eine sogenannte Qualifizierte Mehrheit. Das bedeutet, dass über die Hälfte aller Mitgliedsstaaten (also mindestens 15), die zusammen über 65 % der EU-Bevölkerung vertreten, zustimmen müssen. Gerade bevölkerungsreiche Staaten wie Deutschland, Frankreich und Italien sind bei derartigen Abstimmungen also essenziell. Eine Enthaltung gilt durch diese Regelung übrigens ebenfalls als Ablehnung und dient lediglich der Optik.
Ungarn und Slowakei kippten vereinbarten Trilog
Um den Abstimmungsablauf zu erleichtern, wird im Vorfeld zu einer Ratssitzung informell gefragt, wie die Staaten abstimmen wollen. Normalerweise tun sich hier keine Überraschungen mehr auf. Wenn ein Gesetzesentwurf in den vorangegangenen Verhandlungen unter den Mitgliedsstaaten schon zu einer Einigung ausverhandelt wurde, gilt die Abstimmung im Rat als Formsache.
Beim Renaturierungsgesetzes war das nicht so. Bisher haben 20 der 27 EU-Mitgliedsstaaten das Gesetz unterstützten – nur Schweden, Polen, Italien, die Niederlande, Belgien, Finnland und Österreich wollen gegen das Gesetz stimmen oder sich enthalten. Doch kurz vor der endgültigen Abstimmung kündigte Ungarn unter Viktor Orban an, gegen den Gesetzesentwurf zu stimmen. Dem schloss sich die Slowakei unter Robert Fico an.
Europa will das Renaturierungsgesetz
Die Stimmen für ein Renaturierungsgesetz sind laut und werden immer lauter. In Österreich arbeiten verschiedenste Interessensvertreter:innen zusammen, um die Blockade unseres Landes zu lösen. Darunter NGOs aus Tier-, Klima- und Umweltschutz, Wissenschaftler:innen, Unternehmen und Wirtschaftsverbände. Auch wir von Tierschutz Austria haben uns natürlich angeschlossen.
Das Renaturierung im Interesse der Bevölkerung ist, zeigen über 21.000 Bürger:innen, die in nur knapp 3 Wochen eine spontane Petition für das Gesetz unterschrieben haben, zu der das österreichische Parlament nun eine Stellungnahme abgeben muss. Laut einer repräsentativen Umfrage sind ohnehin über Dreiviertel der Österreicher:innen für Naturschutz- und Renaturierung und fordern verbindliche Ziele durch die Politik.
Zuletzt haben sich auch 11 Umweltminister:innen anderer EU-Mitgliedsstaaten, ausgehend von Irland, in einem offenen Brief an ihre Kolleginnen und Kollegen der blockierenden Länder gewandt und sie dazu aufgerufen, dem Renaturierungsgesetz zuzustimmen.
Damit stehen zwar noch immer 18 der 27 Staaten hinter dem Gesetz, zusammen repräsentieren sie aber nur noch knapp 63 % der EU-Bevölkerung. Die qualifizierte Mehrheit wäre damit nicht mehr gegeben und das Gesetz wurde von der Agenda der angedachten Ratssitzung genommen. Das nächste Mal tagt der Rat der EU-Umweltminister:innen am 17. Juni, ob bis dahin eine Einigung gefunden wird, ist ungewiss.
Österreich könnte das Renaturierungsgesetz retten
Aktuell wird händeringend nach einer Lösung gesucht, um das Renaturierungsgesetz doch noch in dieser Legislaturperiode des EU-Parlaments zu verabschieden. Besonders Polen und Österreich gelten als Wackelkandidaten und könnten mit einer Zustimmung das Gesetz retten. Durch den Regierungswechsel in Polen von der rechtskonservativen PiS-Partei auf eine gemäßigtere pro-europäische Parteienkoalition besteht die Hoffnung, dass dort nun die Blockade des Renaturierungsgesetzes aufgegeben wird.
Debatte um Renaturierungsgesetz ist stark politisch angeheizt
Obwohl das Gesetz im Zuge des Green Deals unter der konservativen EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen initiiert wurde, sind es mittlerweile hauptsächlich konservative und rechte Parteien, die sich dagegen aussprechen und jegliche Initiativen für eine nachhaltige Zukunft gerne als unrealistische Projekte der Grünen Fraktion abtun. Dabei muss der Erhalt unserer Umwelt parteiunabhängig von hoher Priorität sein.
Wir in Österreich sind in einer besonderen Lage. Obwohl sich unsere Umweltministerin Leonore Gewessler (Grüne) offen für Renaturierung ausspricht, hat sie sich bei Abstimmungen im Rat dazu bisher enthalten. Grund ist ein Veto unserer, im föderalistischen Österreich sehr einflussreichen 9 Bundesländer. Diese können die Minster:innen zwingen, sich im Falle von EU-Gesetzen, die in die Belange der Bundesländer eingreifen würden (hier die 9 Naturschutzgesetze), an eine sogenannte „bindende Stellungnahme der Länder“ zu halten.
Für das Renaturierungsgesetz haben die Bundesländer im Mai 2023 eine bindende Stellungnahme veröffentlicht, in der sie das Gesetz geschlossen ablehnen. Die Umweltministerin sah sich damit zu einer Enthaltung verpflichtet und hat wiederholt betont, dass sie nur ohne eine bindende Stellungnahme frei entscheiden könnte.
Unklarheiten, ob Österreich zustimmen darf
Die juristische Gültigkeit einer solchen Stellungnahme wird in diesem konkreten Fall aber stark bezweifelt, denn der der Bund darf laut Verfassung aus „zwingenden außen- und integrationspolitischen Gründen“ von der Position der Bundesländer abweichen. Europaweiter Naturschutz und Renaturierung sollen unsere Zukunft sichern und werden von der Bevölkerung stark unterstützt. Sie sollten daher natürlich als dringender außenpolitischer Grund gewertet werden.
Darüber hinaus bezieht sich die Stellungnahme der Bundesländer auf eine veraltete Fassung des Gesetzes. Viele der von den Ländern kritisierten Punkte wurden in der aktuellen Fassung abgeändert. Wien und Kärnten haben deshalb bereits angekündigt, ihre Blockade zu lösen, wenngleich sich Juristinnen und Juristen noch uneinig sind, ob das genügt, um die bindende Stellungnahme der Länder ungültig zu machen.
ÖVP möchte kein Renaturierungsgesetz
Zuletzt hat sich die Bundespartei der ÖVP neu in die Diskussion eingemischt. Weil das Renaturierungsgesetz auch das ÖVP-geführte Landwirtschafts- und Finanzministerium beträfen, müsse sich die Grüne Umweltministerin ohnehin vorher mit dem großen Koalitionspartner absprechen.
Hier widerspricht das Umweltministerium selbst und betont, dass die Ministerin verfassungsrechtlich frei in ihrer Entscheidung sei. Darüber hinaus wurden zuletzt auch im Eilverfahren wichtige verpflichtende ökologische Umweltauflagen für die Förderung der Landwirtschaft aus der Gemeinsamen Agrarpolitik der EU gestrichen – ohne Miteinbeziehung des Umweltministeriums.
Fazit
Fest steht, dass wir in Österreich genauso wie im Rest der EU auf Renaturierung angewiesen sind, wenn wir unsere Zukunft sichern wollen. Österreich könnte eine Schlüsselrolle in der europäischen Naturschutzgeschichte spielen. Unabhängig von juristischen Spitzfindigkeiten muss alles darangelegt werden, dieses bereits fertig verhandelte und mehrfach abgestimmte Gesetz endlich ins Rollen zu bringen.
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